Meine
Welt
"Eigentlich hat Wilhelm nur fünf Minuten Geburtstag".
Mit diesem Satz leitete Mutter jedes Jahr ihre Geschichte um die
Umstände meiner Geburt ein.
Das
alte Haus in dem ich geboren wurde, befand sich direkt am Deich
an der ostfriesischen Nordseeküste und fernab der nächsten
größeren Siedlung. Der eigentliche Geburtsvorgang
vom 23. zum 24. Dezember 1955 verlief relativ unproblematisch.
Um 0:30 Uhr erblickte ich das Licht der Welt. Um mir einen eigenen
Ehrentag zu geben entschieden der im Geburtszimmer mitanwesende
alte Hausarzt und Mutter, den Geburtstermin auf den 23. Dezember
um 23:55 Uhr festzulegen. Und daher nur fünf Minuten.
Mutter hat diese Geschichte in meiner Kindheit
so oft erzählt, dass ich es am Ende selber geglaubt habe.
Ohne es zu wissen, hat Mutter mir dadurch die Freude sowohl
an meinen Geburtstag als auch an das Weihnachtsfest genommen.
Die Weihnachtszeit ist für mich seit je her eine traurige
Zeit. Am 23. Dezember habe ich gefühlt noch kein Geburtstag
und am Heiligen Abend ist mein Geburtstag bereits vorbei.
Der
junge Wilhelm war ein sehr introvertiertes Kind und fühlte
sich trotz der acht Geschwister und der Eltern immer alleine.
Das Lesen und Schreiben sowie die Umsetzung der theoretischen
Aufgaben in der Schule fiel ihm schwer und die hochdeutsche
Sprache verstand der plattdeutsch sprechende Junge nicht. Lieber
werkelte er mit den alten rostigen Werkzeugen aus der Werkstatt
seines Vaters und zauberte aus Holz oder Ton Werkstücke,
die andere immer wieder in Erstaunen versetzten. Er war eben
ein visueller Mensch, der nur einmal etwas gesehen haben musste,
um es dann exakt nachzubauen. Die Kinder in der Schule hatten
stets über den Sonderling gelacht, wenn er als Legastheniker
etwas vorlesen sollte und er es nicht konnte. Gerne wäre
er in den Kreis der vermeintlichen Elite eintreten aber das
ging seiner Meinung nach nur über die Theorie.
Mit
Fleiß, Zielstrebigkeit und Ehrgeiz kann man alles erreichen,
so war es auch bei dem heranwachsenden Wilhelm. Die Schulnoten
verbesserten sich zusehends, die kaufmännische Berufsausbildung
wurde vorzeitig erfolgreich abgeschlossen, die berufliche Karriere
ging für seine Verhältnisse steil nach oben. "Der
Janssen fast als Prüfer Dinge an, um die andere einen Bogen
machen" hieß es beim Präsidenten des Landesarbeitsamtes.
Ja, die Kenntnisse und Fähigkeiten des Janssen waren bei
den Kollegen und Vorgesetzten hoch anerkannt, doch privat mit
dem Sonderling einmal ein Bier trinken gehen, wollten die wenigsten.
Irgendetwas stimmt nicht, das merkte der Sonderling
bereits in seinen jungen Berufsjahren, doch fassen konnte er
die Gründe dafür nicht. Die immer wieder auftretenden
innerlichen Unruhen verflüchtigten sich nur dann, wenn
er sich immer neuen geistigen Herausforderungen stellte. Sein
Ehrgeiz entwickelte sich schließlich zu einem ungesunden
Ehrgeiz und zerrte an ihn bis zur vollkommenden Erschöpfung.
Erst in
den 1990er Jahren bekam das Ganze dann mit "Depressionen
aus einer Kindheitsneurose" einen Namen und später
mit der Diagnose von "leicht autistischen Zügen"
auch eine ergänzende Erklärung.
Die Depressionen sind zwischenzeitlich soweit
therapiert, dass ich mit den Narben auf meiner frühkindlichen
Seele leben kann. Der ungesunde Ehrgeiz hat sich zu einem gesunden
Ehrgeiz zurückentwickelt. Mit den leicht autistischen Zügen
kann ich gut leben, weil vor allem meine zweite Frau darüber
herzlich lachen kann. Sie entwickelt daraus witzige Anekdoten,
die sie gerne erzählt, andere dadurch zum Lachen und mich
zum Schmunzeln bringt.
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